Hallo Herr Kanzler

Hallo Herr Kanzler,
was hast Du heute vor? Was wirst Du heute unterlassen zu tun? Oder sollte ich fragen: was wirst Du heute tun? Das ist höflicher, dann musst Du nicht so viel antworten. Weil Du ja weniger tust, als Du unterlässt zu tun. Das liegt in der Sache der Natur. Es gibt schließlich ganz viele Dinge, die man tun könnte – oder die Du tun könntest – aber nicht machst? Warum eigentlich nicht? Weil Du keine Zeit dafür hast!
Es ist auch unhöflich, Dir vorzuwerfen, dass Du nicht genug tust. Außerdem ist es unhöflich, Dich zu duzen. Mach ich ja auch normalerweise nicht. Nur in Gedanken. Ich sehe Dich ja auch so selten – eigentlich sehe ich Dich nur, wenn Du mich nicht siehst. Weil die Kamera nur in eine Richtung zielt. In Deine. Und ich sitze zu Hause in vertrauter Umgebung und sehe Dich an und höre Dir zu, wenn Du wichtige Dinge zu verkünden hast.
Ich sollte Dich nicht duzen. Nicht mal in Gedanken. Das ist respektlos. Ich würde Dich ja auch nicht duzen, wenn Du leibhaftig vor mir stehen würdest. Nein! Dann würde ich Dich in der Mehrzahl nennen. Und Du mich auch. Heute macht man das so. Immer noch. Nicht überall.
Aber wenn zwei Menschen sich das erste Mal treffen, dann nennen sie sich meist in der Mehrzahl. Oder jedenfalls oft, immer dann, wenn sie unterschiedlichen Ranges sind.
Der Niedere, weil er dem Höheren Respekt zollt – oder meistens jedenfalls so tut. Der Höhere, weil er von dem Niederen Respekt erwartet.
Das war nicht immer so. Zu früheren Zeiten hatte der Niedere den Höheren in der Mehrzahl zu nennen, während dieser ihn nur als einfachen Menschen betrachtete und ihn deshalb auch nur in der Einzahl nannte.
Wenn der Standesunterschied noch größer war, wurde der Einfache sogar nur in der dritten Person genannt, als wäre er gar nicht anwesend, während der Einfache die höhere Persönlichkeit zu Ihren hatte. Dann kam es aus heutiger Sicht zu lustigen Wortwechseln: „Könnt Ihr mir verzeihen, mein Herr, mein Gebieter?“
Erst nennt er ihn in der Mehrzahl, begrenzt ihn dann in der Anrede auf eine einzige Person: „mein Herr“; nicht: „meine Herren“.
Manchmal hat der Niedere den Höheren auch fast schon genötigt, indem er sagte: „Gnädiger Herr“.
Damit setzte er in der Anrede bereits voraus, dass der Herr Gnade walten lassen würde. Heute würde man sagen: „Lass mich bloß in Ruhe, du Arsch“. Vielleicht sagt man es nicht so krass, denkt es aber doch.
Huch, wie die Zeit vergeht. Also wieder zurück.
Ob er ihm verzeiht? Darauf antwortet der Herr nicht, jedenfalls möglichst nicht direkt: „Komm er näher, ich kann ihn nicht hören“.
Heute würde der Nichtangesprochene sich nach dem vermeintlich Angesprochenem umsehen. Wenn er das früher gemacht hätte, würde man ihm die Haare abrasiert haben – bis auf die Schultern, was gleichzeitig ein Verlust des Augenlichtes und aller Zähne zur Folge gehabt hätte.
Die Majestäten haben sich sogar selbst in der Mehrzahl genannt: „Wir ziehen Uns zurück, hat er Unsere Schlafstatt vorbereitet?“
„Wer?“
Zack, Rübe ab.
Aber andersherum: „Selbstverständlich Eure Majestät; wenn seine Majestät ihm folgen würde?“
„Wem?“
„Na mir, du Spack.“
Woher hatten die das nur? Ich meine, wie kamen die darauf, sich selbst in der Mehrzahl zu nennen? Wähnten sie sich Gott gleich? Zumindest dachten sie ja, sie wären eingesetzt von Gottes Gnaden. Aber zum Bibel lesen waren die meisten hohen Herren doch viel zu blöd. Die Bibel gab es lange Zeit nur in Latein oder Altgriechisch. Wer es wagte, sie zu übersetzen, kam mit einer Tonsur nicht davon.
In Gedanken duzen wir doch jeden, oder nicht?
Gott duzen wir ja auch – und zwar nicht nur in Gedanken, sondern auch in unseren Gebeten, also wenn wir ihn direkt ansprechen.
Ist das denn nicht eine Frechheit, Herr Kanzler, wenn ich Dich in der Mehrzahl anrede, während ich Gott in der Anrede auf eine Person reduziere? Dabei sind es wirklich drei. Der Vater, der Sohn und der Heilige Geist. Aber dafür haben wir ja die Dreieinigkeit erfunden. Sind die sich wirklich einig, die drei? Und wenn ja, worin? Das wir sie duzen dürfen? Kann ich mir nicht vorstellen. Wo es doch in der Genesis Kap. 1 Vers 1 heißt: „Lasst uns Menschen machen in unserem Bilde“.
So, Herr Kanzler, jetzt hab ich keine Zeit mehr für Dich. Ich muss mich nämlich um meine Gesundheit kümmern, damit sie mir nicht unnütz abhanden kommt.
Begraben wir das Sie, Herr Kanzler. Du darfst auch Günni zu mir sagen, wenn ich Dich Oli nennen darf.
Hochgesellschaftlich
Günni